Frage 29:

Welche konkrete Orientierung hat Jesus in ethischen Fragen vermittelt?

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Jesus von Nazaret war ein gesetzes-, ein toratreuer Jude, allerdings kein Schriftgelehrter. Er ähnelt Weisheitslehrern wie Jesus Sirach oder dem Autor der Weisheit Salomos, denen es in erster Linie um Orientierung und Hilfen für den normalen Alltag ging.

In den Evangelien äußert sich Jesus zum Doppelgebot der Liebe, zum Vergeltungsverzicht und zur Feindesliebe, zum Schwurverbot, zum Tötungsverbot, zum Elterngebot, zum Zehntgebot und zum Opfergebot. Hier sollen das Sabbatruhegebot und das Ehescheidungs- bzw. Wiederverheiratungsverbot in den Blick genommen werden. Dann soll es um die Reinheitsgebote, seine Einstellung zu Besitz und Reichtum und die Aufforderung zum Verlassen der Familie in seine Nachfolge gehen.

Zunächst zum Sabbatruhegebot: Wir können davon ausgehen, dass Jesus am Sabbat heilte und deswegen von seinen Gegnern kritisiert wurde. Ein Heilungsverbot am Sabbat ist jedoch im Alten Testament nicht zu finden. Erst ab 200 nach unserer Zeitrechnung sind Verbote bestimmter ärztlicher Handlungen in der jüdischen Schrift der Mischna nachweisbar. Der Eindruck, der im Markusevangelium erweckt wird, könnte daher durchaus stimmen:

Als er wieder in die Synagoge ging, war dort ein Mann mit einer verdorrten Hand. Und sie gaben Acht, ob Jesus ihn am Sabbat heilen werde; sie suchten nämlich einen Grund zur Anklage gegen ihn. Da sagte er zu dem Mann mit der verdorrten Hand: Steh auf und stell dich in die Mitte! Und zu den anderen sagte er: Was ist am Sabbat erlaubt – Gutes zu tun oder Böses, ein Leben zu retten oder es zu vernichten? Sie aber schwiegen. Und er sah sie der Reihe nach an, voll Zorn und Trauer über ihr verstocktes Herz, und sagte zu dem Mann: Streck deine Hand aus! Er streckte sie aus und seine Hand wurde wiederhergestellt. Da gingen die Pharisäer hinaus und fassten zusammen mit den Anhängern des Herodes den Beschluss, Jesus umzubringen. (Mk 3,1-6)

Hier wird sichtbar, dass es seinen Kritikern nicht um den Bruch der Sabbatruhe ging, sondern darum, wie sie einen unbequemen charismatischen Heiler in der Öffentlichkeit bloßstellen bzw. aus dem Weg räumen könnten.

Warum aber hat Jesus am Sabbat eigentlich geheilt, selbst wenn Menschen gar nicht lebensgefährlich erkrankt waren? Der Nazarener verbindet die frühjüdische Sabbatvorstellung mit seiner Botschaft vom nahe gekommenen Gottesreich: Am Ende der Welt – als dessen Vollendung – wird eine Heilszeit erwartet, in der es keine Krankheit, kein Leid, noch irgendeine Beeinträchtigung des menschlichen Lebens mehr geben wird. Die Heilszeit hat mit dem anbrechenden Gottesreich schon begonnen, und vor allem der Sabbat soll dies zum Ausdruck bringen: Am Ende der Welt wird die Welt wieder so sein, wie sie am Beginn der Schöpfung war mit dem Sabbat als Zeichen des Ausruhens von jeglicher Arbeit (Gen 1). Die Heilszeit am Beginn der Schöpfung vor dem Fall des Menschen ist sozusagen das Modell der oder ein Abbild für die Heilszeit am Ende der Geschichte. Die Bibelwissenschaftlerin Angelika Strotmann bringt das schön auf den Punkt:

„Kranke oder behinderte Menschen sollen den Sabbat so feiern können, wie es seinem Wesen als antizipierter (= vorweggenommener) Heilszeit entspricht: in Freude, Entspannung und Ruhe, im Aufatmen von jeglicher Knechtschaft und Unfreiheit, als erfahrene Gottesnähe.“ (AS 154)

Das Ehescheidungs- bzw. Wiederverheiratungsverbot ist 5mal im Neuen Testament überliefert, was auf jesuanische Herkunft schließen lässt. Aus welchem Grund hat Jesus die Scheidung verboten?

Einiges spricht dafür, dass es ihm um einen schöpfungstheologischen Zusammenhang geht:

Da kamen Pharisäer zu ihm und fragten: Ist es einem Mann erlaubt, seine Frau aus der Ehe zu entlassen? Damit wollten sie ihn versuchen. Er antwortete ihnen: Was hat euch Mose vorgeschrieben? Sie sagten: Mose hat gestattet, eine Scheidungsurkunde auszustellen und die Frau aus der Ehe zu entlassen. Jesus entgegnete ihnen: Nur weil ihr so hartherzig seid, hat er euch dieses Gebot gegeben. Am Anfang der Schöpfung aber hat Gott sie männlich und weiblich erschaffen. Darum wird der Mann Vater und Mutter verlassen und die zwei werden ein Fleisch sein. Sie sind also nicht mehr zwei, sondern ein Fleisch. Was aber Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen. (Mk 10,2-9)

Das Verbot ist somit aus der Schöpfungsabsicht Gottes her begründet: Jesus fordert seine Schüler:innen mit dem Hinweis auf die Schöpfungsgeschichte im ersten Buch der Bibel (Gen 1,27 & 2,24) auf, „den Traum von der unbedingten Treue und Verlässlichkeit gegen alle inneren wie äußeren Widerstände zu leben und damit den Schöpfungsauftrag an den Menschen als Abbild des unverbrüchlich treuen und verlässlichen Gottes zu entsprechen.“ (AS 158) Auch dieses Verbot wird somit direkt aus der Tora-Weisung abgeleitet, aus der sogenannten Schöpfungstora.

Zu den jüdischen Reinheitsgeboten wie dem rituellen Waschen der Hände oder dem Abspülen von Kesseln, Bechern und Krügen bringt er folgenden Grundsatz ein: Nichts, was von außen in den Menschen hineinkommt, kann ihn verunreinigen, sondern das, was aus dem Menschen herauskommt, macht den Menschen unrein. (Mk 7,15par) Jesus vergleicht die Reinheit des Herzens und des Inneren mit der körperlichen Unreinheit. Er will damit aber nicht die Reinheitsgesetze grundsätzlich in Frage stellen, es geht ihm eher um einen bodenständigen Realismus und eine weisheitliche Erkenntnis oder Klugheit, die den Blick von der Oberfläche weg in die Tiefe der menschlichen Seele lenkt.

Die Einstellung Jesu zu Besitz und Reichtum scheint auf den ersten Blick nicht mit den Aussagen der Tora-Weisung kompatibel zu sein. An einer Stelle im Markusevangelium heißt es: Leichter ist es, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr geht, als dass ein Reicher in das Königreich Gottes hineingeht. (Mk 10,25 par). Und dann steht im Matthäusevangelium: Niemand kann zwei Herren dienen … Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon (Mt 6,24 par). Hier und an weiteren Stellen zeigt Jesus eine eher negative Einstellung zu Besitz und Reichtum und betont die Vorrangstellung Gottes vor dem Dienst an diesem „Mammon“. Die Bindung am irdischen Besitz kann die Orientierung des Menschen am Willen Gottes ernsthaft gefährden. (Schröter, Jesus 257)

In der Tora-Überlieferung wird Besitz und Reichtum demgegenüber zunächst einmal positiv gewertet, z.B. bei den Erzeltern. Erst bei den Propheten und in der jüngeren Weisheit wächst dann das Bewusstsein, dass viel Besitz und Reichtum zur Unterdrückung der Armen und zur Beugung des Rechts führen können. Damit gäbe es dann eine Verletzung des Gebots der Nächstenliebe und würde faktisch eine Abwendung von Gottes ausdrücklichem Willen bedeuten, wie ihn die Tora-Weisung formuliert.

Eine weitere Spannung gegenüber der Tora zeigt sich im Elterngebot, das die Versorgung der alten Eltern sichern soll. Dem gegenüber stehen die Nachfolgeworte vom Verlassen der Familie und somit auch der Eltern: Jeder, der um meinetwillen und um des Evangeliums willen Haus oder Brüder, Schwestern, Mutter, Vater, Kinder oder Äcker verlassen hat, wird das Hundertfache dafür empfangen. Jetzt in dieser Zeit wird er Häuser und Brüder, Schwestern und Mütter, Kinder und Äcker erhalten, wenn auch unter Verfolgungen, und in der kommenden Welt das ewige Leben. (Mk 10,28-30 par).

Die Berufungserzählungen weisen wiederum in Richtung einer prophetischen Tradition. Hier stellt der Prophet Elischa seine Prophetenberufung über das Elterngebot! (1 Kön 19,19) Sicher spielt auch die Tatsache eine Rolle , dass Jesus in absoluter Naherwartung denkt und lebt: Es geht für ihn ja um die Durchsetzung des Gottesreiches, worauf er und seine Schüler:innen ganz Israel vorbereiten und sammeln sollen. Vor diesem Hintergrund ist die Bindung an die Eltern zweitrangig.

Zusammenfassend lässt sich sagen:

Jesus orientiert sich in seiner ethischen Lehre voll an der Tora, allerdings vor allem in der Linie ihrer prophetischen und teilweise weisheitlichen Auslegungstradition und weniger in der Tradition der Auslegung durch Gesetzeslehrer. Er „setzt seine Prioritäten häufiger bei den Bedürfnissen und dem Wohlergehen der Menschen, was der prophetischen Tradition nahesteht, oder auch beim volkstümlichen common sense“, wie der Bibelwissenschaftler Thomas Kazen zurecht zusammenfasst. (Kazen in JHB 415f.)

Aber die Schöpfungstora spielt bei ihm eine hervorgehobene Rolle und legt die Grundlage für den universalistischen Charakter einer Reihe von Jesusworten.

[Literatur u.a. Angelika Strotmann, Der historische Jesus S.150ff.; Thomas Kazen im Jesus Handbuch S.412ff.]