Die Gleichnisse Jesu von Nazaret gelten bis heute als „authentische Jesusüberlieferung“ (TM 303). Gleichnisse sind zwar schon vorher im Judentum in Gebrauch, aber nirgendwo in der Dichte, die bei Jesus zu finden ist. Sie haben bei ihm eine deutlich individuelle Prägung.
Die Gleichnisse Jesu sind in der Mehrzahl eine „weisheitliche“ Form, die bemüht ist, auch einfache Menschen und Kinder zu erreichen. Sie handeln von Menschen (auch in Beziehung zu Tieren und Pflanzen), um das Verhältnis von Gott und Mensch darzustellen: „Die Botschaft lautet: Gott handelt „menschlich“. Er lässt die Chance zur Veränderung. Der Mensch kann umkehren und aus einem „unfruchtbaren Baum“ kann ein „fruchtbarer Mensch“ werden.“ (TM 302)
In das Zentrum seiner Verkündigung stellt Jesus eine metaphorische Sprache, eine besondere Art, von Gott zu sprechen. „Sie will nicht bezeugen, wie man schon immer über Gott dachte. Sie will nicht vorschreiben, wie man über ihn denken soll. Sie will Impulse geben, immer wieder neu und anders von ihm zu denken.“ (TM 309)
Neben der Form ist auch die Sprache wichtig. Die Gleichnisse wurden in aramäisch, der Sprache der Menschen seiner Umgebung, erzählt. Es geht dabei letztlich um eine Kommunikation auf Augenhöhe: Sie vermitteln keine Dogmen oder Thesen. Durch die metaphorische Ebene wird der Hörer in die Welt des Gleichnisses sozusagen hineingezogen. Jesus gebraucht vorwiegende bekannte Bildwelten, die die Menschen selbst kennen. Diese sind häufig bis heute gut nachvollziehbar!
Sehr wahrscheinlich wurde Jesus von vielen Menschen als Rabbi wahrgenommen.
Was ist ein Rabbi? Als Rabbi wird zur Zeit Jesu ein jüdischer Schriftgelehrter bezeichnet, der die Worte der jüdischen Weisung – die Tora – auslegte. Im Neuen Testament steht dafür in der Regel das griechische Worte didáskalos, – deutsch ‚Lehrer‘ -, entsprechend heißen seine Anhänger Schüler – griechisch ‚mathätäs´. Wie andere Schriftkundige seiner Zeit diskutierte er mit anderen Schriftgelehrten, sammelte Schüler:innen um sich, lehrte in Synagogengottesdiensten und stand für theologische Fragen zur Verfügung.
Aber was ist überhaupt die jüdische „Tora“ und wie wird diese Weisung Gottes in der Zeit Jesu verstanden? (AS 147f)
Tora bedeutet im Hebräischen zunächst: Weisung, Wegweisung, Unterweisung, Belehrung – gemeint ist eine orientierende Unterweisung wie z.B. die von Eltern gegenüber ihren Kindern oder von Priestern Laien gegenüber oder von Weisheitslehrern gegenüber ihren Schülern. Von dieser Grundbedeutung her wurde auch die Weisung Gottes als Tora bezeichnet. Sie wurde als Wegweisung zu einem gelingenden Leben verstanden. Im Laufe der Zeit verschob sich die Bedeutung dann mehr in den gesetzlichen Bereich, so dass sie zum schriftlich fixierten Gesetz, zur Weisung Gottes wurde, die Gott am Sinai erlassen und durch Mose verkündet hat. Vermutlich ab dem 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechung wurde der Begriff dann auf den gesamten Pentateuch – die fünf Bücher Mose – inklusive seiner Erzähltexte angewendet.
Noch VOR Jesus wird die Tora dann schließlich bei Jesus Sirach (Sir 24,23; 15,1) mit der personifizierten göttlichen Weisheit identifiziert. Dadurch wird die Tora zu einer universalen Weisung, die in der Schöpfung grundgelegt ist und somit für alle Völker zugänglich. Hier findet eine starke Ausweitung und Öffnung statt.
Zur Zeit Jesu wird die Tora dann noch einmal um die mündliche Überlieferung und deren Aktualisierung erweitert. Dies wird als „mündliche Tora“ bezeichnet und ist zwischen den verschiedenen religionspolitischen Gruppen durchaus umstritten (z.B. lehnten die Sadduzäer im Unterschied zu den Pharisäern die mündliche Tora komplett ab!)
Im Blick auf Jesus ist somit grundsätzlich festzuhalten: Der Begriff „Tora“ und seine griechische Übersetzung „Nomos“ wurden zur Zeit Jesu SEHR OFFEN verwendet. In der Tora wurzeln Jesu Gottesverhältnis, seine ethischen Grundsätze und seine Gottes-Verkündigung mit der Ausrichtung auf die Armen und Marginalisierten. Aus ihr entnimmt er die Metaphern seiner Verkündigung wie Hirte, Arzt, usw. und die Symbolik seines Handelns, zum Beispiel, dass der Gott Israels als Gastgeber seines Volkes zu sehen ist.
Für Jesus gilt: Er verkündigt nicht die Tora und ihre allgemeine Bedeutung, sondern er lebt aus ihr und mit ihr. Sie ist die Basis seiner Verkündigung und seines Wirkens, in ihr begegnet der Wille Gottes (AS 150), der das Heil seines Volkes will und darüber hinaus!
Jesus war damit vertraut, wie in seiner Zeit die Schrift, die Tora, ausgelegt wurde. Ihm ging es dabei nicht um abstrakte Interpretationen, sondern für ihn war die Schrift ein „Instrument“, das er für verschiedene „Zwecke“ einsetzte: (TM 320)
Er hat dabei ein Erfüllungsbewusstsein, zum Beispiel wenn er die Wunder, die durch ihn geschehen, als Erfüllung eschatologischer (gleich endzeitlicher) Verheißungen sieht. In Jesu Handeln bewahrheitet sich, was im jüdischen Gesetz – der Tora – steht. Jesus antwortete ihnen: Geht und berichtet Johannes, was ihr hört und seht: Blinde sehen wieder und Lahme gehen; Aussätzige werden rein und Taube hören; Tote stehen auf und Armen wird das Evangelium verkündet. (Mt 11,4) Hier übernimmt er Bezug auf Worte, die schon der Prophet Jesaja einige Jahrhunderte vor ihm formuliert hatte.
Gern provoziert er auch, um Hörer:innen zu schockieren und sie zu einem der neuen Zeit entsprechenden Handeln zu bewegen: Sehen sollen sie, sehen, aber nicht erkennen; hören sollen sie, hören, aber nicht verstehen, damit sie sich nicht bekehren und ihnen nicht vergeben wird. (Mk 4,12)
Für Jesus enthält die Tora „den Willen Gottes als verpflichtende Forderung an die Menschen“ (M-T 320f), eine Überzeugung, die er mit allen jüdischen Richtungen teilt. Dafür musste man freilich die entsprechenden Schriftstellen auch entsprechend interpretieren.
Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben! Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen. Amen, ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird kein Jota und kein Häkchen des Gesetzes vergehen, bevor nicht alles geschehen ist. Wer auch nur eines von den kleinsten Geboten aufhebt und die Menschen entsprechend lehrt, der wird im Himmelreich der Kleinste sein. Wer sie aber hält und halten lehrt, der wird groß sein im Himmelreich. (Mt 5,17-19) Und das „Himmelreich“ ist bei Matthäus die Wiedergabe des sonst gebräuchlichen Wortes „Gottesreich“.
[T-M 302ff / AS 147f]