Frage 18:

Wie hat Jesus sich selbst und seinen Weg gesehen?

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Um den Menschen Jesus von Nazaret und seinen Lebensweg besser zu verstehen, ist ein Blick auf sein Selbstverständnis interessant und wichtig: Wie hat er sich und sein Wirken wahrgenommen? Wie hat er sich selbst und seine eigene Rolle und Aufgabe eingeschätzt?

Um diese Fragen für Jesus beantworten können, muss man zunächst in seine Vorstellungswelt vom sich durchsetzenden Gottesreichs eintauchen. Jesus sieht sich selbst und seine Erfahrungen in seinem Wirken aufs engste damit verbunden und hat sich als Repräsentant und als wirksamen Faktor des anbrechenden Gottesreiches gesehen. Durch ihn selbst wurde die Nähe Gottes auf so noch nie dagewesene Art und Weise vermittelt. Mehr noch: Jesus richtet durch sein Wirken dieses Gottesreich auf. Das Erbarmen Gottes zu den Menschen schafft sich darin Raum, vor allem in seiner persönlichen Zuwendung zu den Armen, Hilfsbedürftigen und Ausgegrenzten, denen er begegnet.

Nach dem jüdischen Verständnis seiner Zeit erwartete man im apokalyptischen Denken die Endzeit, also das endgültige Erscheinen Gottes so: Gott Jahweh kommt selbst und setzt sein Reich, das bereits in seiner Sphäre im Himmel existiert, auch auf der Erde durch. Sein Volk Israel hat von diesem Reich nur Heil zu erwarten. Konkret hoffte man, dass Gott auf diesem Weg Israel aus der Unterdrückung durch fremde Völker und deren Herrscher befreien würde. Dazu braucht Gott keine weitere Unterstützung, keinen weiteren Heilsvermittler.

Das sieht Jesus anders. Er sieht sich durchaus als einen solchen Heilsvermittler: In seinem eigenen Wirken und in enger Verbundenheit mit Gott wird dieses Gottesreich und das damit verbunden Heil sichtbar, erfahrbar, präsent. Jesus ist weit mehr als einer der Propheten, die ankündigten, dass der Anbruch des Gottesreichs nahe sei. Er ist ein fundamentaler Teil der Gottesreich-Bewegung, die sich mit ihm und durch ihn und um ihn herum durchsetzt, erkennbar unter anderem durch sein heilendes, integrierendes und befreiendes Wirken unter den Menschen.

Der Nazarener hat dabei keineswegs die Vorstellung aufgegeben, dass Gott in diesem Prozess seine universale Herrschaft durchsetzen wird. Aber für seine Zeit und für sein Wirken gilt: Dieses Gottesreich setzt sich hier nur im Kleinen, nur punktuell durch. Die endgültige und universale Ausbreitung wird Gott am Ende durch sein eigenes Erscheinen herbeiführen!

Jesus geht sehr konkret davon aus, dass sich in seinem Wirken das endzeitliche Heil Gottes unter den Menschen verwirklicht: Geht und berichtet Johannes, was ihr gesehen und gehört habt: Blinde sehen wieder, Lahme gehen und Aussätzige werden rein; Taube hören, Tote stehen auf und Armen wird das Evangelium verkündet. (Lk 7,22par) Hinter diesem Text stehen verschiedene Worte des Propheten Jesaja. Dadurch wird deutlich: Jesus bezieht Aussagen des Propheten, die eigentlich auf Gott hin ausgesagt waren, auf sein eigenes Wirken. Damit erhebt er keinen geringeren Anspruch als den, dass er selbst an Stelle Gottes handelt. Was Israel eigentlich von Gott erwartet, wird nun von ihm erfüllt: Jesus  … der Menschensohn ist gekommen, um zu suchen und zu retten, was verloren ist. (Lk 19,10)

Jesu Jünger:innen sind vor diesem Hintergrund als Ohren- und Augenzeugen zu sehen, die erleben, was in der Geschichte Israels viele Propheten und Könige ersehnt haben: die endzeitliche Erfüllung der Verheißungen Gottes für ein heilvolles Leben. Jesus wandte sich an die Jünger und sagte zu ihnen allein: Selig sind die Augen, die sehen, was ihr seht. Denn ich sage euch: Viele Propheten und Könige wollten sehen, was ihr seht, und haben es nicht gesehen, und wollten hören, was ihr hört, und haben es nicht gehört. (Lk 10,23f)

Sichtbar und erfahrbar wurde dieses zunächst allgemein klingende Heilshandeln in seinen Tätigkeiten als Heiler und als Exorzist. Auch in seiner Hinwendung zu den sogenannten Zöllnern und Sündern und in seinen Festmählern und Mahlgemeinschaften kommt diese Heilslinie zum Ausdruck. Dieses Verhalten muss typisch für Jesus gewesen sein. Wenn Jesus Sünden vergibt, dann tut er hier etwas, was nach damaligem jüdischen Verständnis nur Gott zusteht. Auch hier zeigt sich sein für nicht wenige anstößiges Selbstverständnis, dass er an der Stelle Gottes handelt, was viele Menschen durchaus als fraglich empfanden: Wie kann dieser Mensch so reden? Er lästert Gott. Wer kann Sünden vergeben außer dem einen Gott? (Mk 2,7) In dieser Linie ist dann auch die Hinwendung solcher Zöllner und Sünder zu ihm gleichzeitig für Jesus auch eine Hinwendung zu Gott. Die Hinwendung zu Jesus bringt ihr Gottesverhältnis wieder in Ordnung. So sagt er zu einer stadtbekannten Sünderin im Lukasevangelium: Deine Sünden sind dir vergeben. Da begannen die anderen Gäste bei sich selbst zu sagen: Wer ist das, dass er sogar Sünden vergibt? Er aber sagte zu der Frau: Dein Glaube hat dich gerettet. Geh in Frieden! (Lk 7,48-50) Jesus verkündigt somit nicht nur Gottes Erbarmen. Jesus ist Gottes Erbarmen, in seinem Verhalten und Wirken vollzieht sich Gottes Erbarmen.

Konsequenterweise versteht Jesus die endzeitliche Phase, die mit ihm beginnt, als eine Heilszeit, die als Fest gefeiert werden: Da die Jünger des Johannes und die Pharisäer zu fasten pflegten, kamen Leute zu Jesus und sagten: Warum fasten deine Jünger nicht, während die Jünger des Johannes und die Jünger der Pharisäer fasten?  Jesus antwortete ihnen: Können denn die Hochzeitsgäste fasten, solange der Bräutigam bei ihnen ist? Solange der Bräutigam bei ihnen ist, können sie nicht fasten. (Mk 2,18f) Der Bräutigam ist in diesem Fall Jesus, der mit seinen Hochzeitsgästen feiern will!

Jesus war darüber hinaus klar, dass diese Bindung des Heils Gottes an seine Person und sein Auftreten eine Neuorientierung und Neuausrichtung für die jüdischen Menschen seiner Umgebung bedeutete. Sie mussten sich von manchen überkommenen Heilserwartungen trennen wie eine automatische „Rettung“, weil man zum Volk der Juden gehört. Täten sie dies nicht, wäre es, als würde man etwas Neues mit etwas Altem unpassenderweise verbinden. Er sagt:  Niemand näht ein Stück neuen Stoff auf ein altes Gewand; denn der neue Stoff reißt vom alten Gewand ab und es entsteht ein noch größerer Riss. Auch füllt niemand jungen Wein in alte Schläuche. Sonst zerreißt der Wein die Schläuche; der Wein ist verloren und die Schläuche sind unbrauchbar. Junger Wein gehört in neue Schläuche. (Mk 2,21f) Die neue Heilszeit des Gottesreichs bricht die bislang gewohnten Bahnen der eigenen Existenz auf. Mit dem Gottesreich … ist es wie mit einem Schatz, der in einem Acker vergraben war. Ein Mann entdeckte ihn und grub ihn wieder ein. Und in seiner Freude ging er hin, verkaufte alles, was er besaß, und kaufte den Acker. Auch ist es mit dem Himmelreich wie mit einem Kaufmann, der schöne Perlen suchte. Als er eine besonders wertvolle Perle fand, ging er hin, verkaufte alles, was er besaß, und kaufte sie. (Mt 13,44f)

Die Frage nach der Akzeptanz seines Selbstverständnisses gilt dann auch im Blick auf seine ethischen Weisungen. Am Ende seiner großen ethischen Reden in den Evangelien heißt es daher: Ich will euch zeigen, wem ein Mensch gleicht, der zu mir kommt und meine Worte hört und danach handelt. Er gleicht einem Mann, der ein Haus baute und dabei die Erde tief aushob und das Fundament auf einen Felsen stellte. Als ein Hochwasser kam und die Flutwelle gegen jenes Haus prallte, konnte sie es nicht erschüttern, weil es gut gebaut war. Wer aber hört und nicht danach handelt, gleicht einem Mann, der ein Haus ohne Fundament auf die Erde baute. Die Flutwelle prallte dagegen und sofort stürzte es ein; und der Einsturz jenes Hauses war gewaltig. (Lk 6,47-49par) Es kommt Jesus entscheidend darauf an, dass man seine Worte nicht nur hört, sondern auch tut! Damit bringt er einen Anspruch zum Ausdruck, den das Judentum seiner Zeit eigentlich nur Gottes Weisungen – der Tora – zuschrieb. Er sah sich hier wohl als von Gott autorisierter Tora-Vermittler, der diese vor dem Hintergrund des anbrechenden heilvollen Gottesreiches neu interpretiert. Auch hier zeigt sich Jesus vor allem als Anführer einer jüdischen Erneuerungsbewegung.

Man kann davon ausgehen, dass Jesus zu einem späteren Zeitpunkt seines Lebens mit der Möglichkeit eines gewaltsamen Todes gerechnet hat, möglicherweise in Jerusalem. Auch das gehört zu seinem Selbstverständnis mit dazu. Aber wie hat er diese Gefahr für sich gedeutet? Ausschließen kann man die Vorstellung, er habe sich unter Berufung auf den Propheten Jesaja als leidender Gottesknecht gesehen (Jes 52,13-53,12), der die Menschen durch sein Leiden und Sterben von ihren Sünden befreit. Wahrscheinlich hat Jesus seinen Tod im Rahmen der „Prophetenmordtradition“ gesehen. Nach dieser Vorstellung hat Israel schon immer die Boten Gottes verfolgt und getötet:  Jerusalem, Jerusalem, du tötest die Propheten und steinigst die Boten, die zu dir gesandt sind. Wie oft wollte ich deine Kinder sammeln, so wie eine Henne ihre Küken unter ihre Flügel nimmt; aber ihr habt nicht gewollt. (Lk 13,34par) Wie Israel seine Propheten im Laufe der Geschichte verfolgt und getötet hat, so töten sie nun auch ihn – eine unheilvolle Sache! In dem sogenannten Verzichtswort im Zusammenhang des letzten Abendmahls zeigt sich aber, dass Jesus davon ausgegangen ist, dass Gott sein Reich am Ende trotz des Todes seines Hauptakteurs der anbrechenden Gottesherrschaft vollenden wird: Amen, ich sage euch: Ich werde nicht mehr von der Frucht des Weinstocks trinken bis zu dem Tag, an dem ich von Neuem davon trinke im Reich Gottes. (Mk 14,25)

In der Forschung gibt es unterschiedliche Einschätzungen, ob und mit welchen Titeln sich Jesus identifiziert hat. Von außen wurden der Titel „Arzt“ (Lk 4,23), die negative Bezeichnung „Fresser und Weinsäufer“ sowie die Anrede „Rabbi“ und „Meister“ an ihn herangetragen – allesamt durchaus aussagekräftige Titulierungen. Keiner der aus der jüdischen Tradition stammenden Titel wie zum Beispiel „Prophet“ oder „Weisheitslehrer“ können seine besondere Rolle und Aufgabe im endzeitlichen Wirken Gottes durch und mit Jesus voll erfassen. Hier gibt es keine Kontinuität, sondern mit dem Anbrechen des Gottesreichs eine völlig neue Dimension. Offensichtlich brauchte Jesus dazu für sich keinen speziellen Titel, um sein eigenes Selbstverständnis auf den Punkt zu bringen.

Bibelexperten wie Jens Schröter gehen darüber hinaus aber davon aus, dass Jesus sich selbst als „Menschensohn“ bezeichnet und wahrgenommen hat (JS 273ff). Dieser Titel begegnet oft dort, wo es um das Selbstverständnis Jesu geht und kommt in den ältesten Jesusüberlieferungen vor: Sie beschreiben den ganzen Weg Jesu. Somit sind für Schröter „alle wesentlichen Aussagen über Weg und Wirken Jesu“ mit dem Menschensohnbegriff verbunden! Wenn Jesus den Begriff für sich gebrauchte, dann hätte er damit ein „Aufmerksamkeitssignal“ gesetzt und auf die Besonderheit seiner Person und gleichzeitig auf seine einzigartige Nähe zu Gott hingewiesen.

[Michael Wolter, in Jesus Handbuch S.425ff./ Jens Schröter, Jesus von Nazaret S.273ff.]