Würde eine Umfrage gestartet werden, wie Jesus ausgesehen haben könnte, dürfte einem Großteil der Befragten folgendes Bild in den Sinn kommen: Schulterlange gepflegte braune oder blonde Haare, schmale Augenbrauen, braune oder manchmal sogar blaue Augen und ein kindlich-makelloses, teils idealisiertes Gesicht mit Bart. Wen verwundert es?
Die ikonographischen Darstellungen des Nazareners zeigen heutzutage größtenteils einen Jesus, der vor allem nach dem europäischen Schönheitsideal gestaltet ist. Dass Jesus aber kein weißer Mitteleuropäer war, sondern im Nahen Osten geboren wurde und damit beispielsweise mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit keine helle Haut hatte, wird in den meisten jesuanischen Darstellungen außen vorgelassen.
Obwohl die Frage, wie Jesus ausgesehen haben könnte, auf den ersten Blick trivial erscheint, beschäftigt sie viele Menschen in den letzten zwei Jahrtausenden.
Bereits im 2. Jahrhundert lässt sich anhand literarischer Quellen ein Diskurs im frühen Christentum über das Aussehen Jesu rekonstruieren. In den sogenannten „Apostelakten“ wird Jesus als schöner Jüngling beschrieben. Andere Theologen der Antike und Spätantike argumentieren hingegen mit einer jesuanischen Deutung von Jesaja, wonach der ‚Diener Gottes‘ weder stattlich noch schön sei.
Diese christologische Auslegung von Jesaja wurde vor allem durch die christlichen Theologen Tertullian und Clemens von Alexandrien verwendet, um eine Angleichung der bildlichen Darstellungen Jesu an das antike Schönheitsideal zu verhindern.
Wie man heute feststellen muss, ist dieses Vorgehen nicht gelungen. Ca 1.700 Jahre später erregte der SPIEGEL mit dem Artikel So sah Jesus aus Aufsehen. Auf Grundlage eines Schädels, der bei Straßenarbeiten in Jerusalem gefunden und auf das erste Jahrhundert datiert wurde, rekonstruierte die BBCdas Aussehen des Mannes. Die Rekonstruktion des Schädels ergab folgendes Bild: Ein Mann mittleren Alters, dunklere Haut, kurzes dunkelbraunes / schwarzes Haar, buschige Augenbrauen und Vollbart. Auch wenn es sich bei dem Schädel nicht um den des historischen Jesus handelt und die Rekonstruktion nicht das wahre Aussehen Jesu darstellt, erfahren wir dennoch, wie die Menschen aus Israel bzw. Palästina des 1. Jahrhunderts und vielleicht auch Jesus ungefähr ausgesehen haben könnten; und zwar wie ein ganz normaler aus Galiläa stammender jüdischer Mann, der in dieser Gegend geboren und aufgewachsen ist. Diese Annahme wird auch dadurch unterstrichen, dass die Evangelien das Aussehen Jesu nicht behandeln. Demnach dürfte das äußere Erscheinungsbild Jesu gegenüber seinen Jüngern nicht außergewöhnlich anders gewesen sein.
Im Endeffekt ist es aber nicht möglich, das Aussehen Jesu zu rekonstruieren. Die nicht vorhandene Quellenlage lässt keine empirisch fundierten Rückschlüsse zu, weshalb Rekonstruktionsversuche im Bereich der Spekulationen anzusiedeln sind. Die Indizien, die sich in den christlichen Quellen finden lassen, reichen nicht aus, um herauszufinden, wie Jesus tatsächlich ausgesehen haben könnte. Vielleicht ist das aber auch nicht schlimm. So kann sich jede:r ein eigenes Bild von Jesus machen.