Für die heutige Jesusforschung ist klar: Jesus war ein selbstverständlicher Teil des Judentums seiner Zeit. Erst sehr viel später wurde die von ihm begründete Bewegung als Christentum bezeichnet. Jesus selbst hat eine solche Entwicklung oder gar Trennung weder beabsichtigt noch deutete sich eine solche Entwicklung im Laufe seines Wirkens schon an.
Vielmehr wollte er eine Erneuerung Israels anstoßen und keine Gemeinschaft außerhalb des Judentums aufbauen. Allerdings ist auch unbestreitbar, dass der Nazarener Entwicklungen angeregt hat, die später zur Trennung von Judentum und Christentum führten.
Dennoch gilt: Man kann sein Wirken und seine Verkündigung nur innerhalb des Judentums seiner Zeit angemessen verstehen!
Jesus teilte die grundlegenden Überzeugungen des jüdischen Glaubens:
- Im Mittelpunkt steht sein Glaube an den einen Gott Jahweh: Dieser hat Israel erwählt, einen Bund mit ihnen geschlossen und Israel das Gesetz, die Tora, als Inhalt dieses Bundes gegeben.
- Das Schema zu diesem einzigen Gott wurde möglicherweise jeden Morgen und Abend gesprochen: (Dtn 6,4-7)
Höre, Israel! Der HERR, unser Gott, der HERR ist einzig. Darum sollst du den HERRN, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft. Und diese Worte, auf die ich dich heute verpflichte, sollen auf deinem Herzen geschrieben stehen. Du sollst sie deinen Kindern wiederholen. Du sollst sie sprechen, wenn du zu Hause sitzt und wenn du auf der Straße gehst, wenn du dich schlafen legst und wenn du aufstehst.
- Die Heiligen Schriften seiner Zeit aus der jüdischen Bibel waren das Gesetz – die Tora als „Weisung“ Gottes -, die Bücher der Propheten und die „übrigen Schriften“ wie z.B. religiöse Lieder wie die Psalmen.
- Jesus war als Zeichen des Bundes mit Gott (Gen 17) am 8. Tag seines Lebens beschnitten worden. (Lk 2,18)
- Die Vermittlung der Tora fand im Elternhaus statt. Auch die Eltern Jesu waren von dort her verpflichtet, ihren Sohn dahingehend zu unterweisen und ihm die Gebote in Verbindung mit der Geschichte Israels zu vermitteln. Dabei ging es allerdings weniger um das Lesen als um das „Hören, Rezitieren und Memorieren des Vorgelesenen“ (Dtn 6,7 / JHB 220).
- Den zentralen Ort für die Verehrung Gottes stellte der Jerusalemer Tempel dar. Hier wurden Opfer wie das tägliche Brandopfer dargebracht und hierher sollten die männlichen Israeliten zu den großen Wallfahrtsfesten Passa, Wochen- und Laubhüttenfest „erscheinen“ (Ex 23,17). Mindestens einmal kurz vor seinem Tod – wahrscheinlich aber regelmäßig (JS 299) – ist Jesus zu diesen Großfesten nach Jerusalem gepilgert.
- Am Sabbat durfte nicht gearbeitet werden, er war Gott geweiht. (Ex 20,20,8-11)
- An ihren jeweiligen Wohnorten versammelten sich die jüdischen Gemeinden in Synagogen, die es in Galiläa und in Judäa zur Zeit Jesu wahrscheinlich an allen Orten gab (JS 96). In diesen „Gebetshäusern“ kamen Jüdinnen und Juden v.a. zusammen, um die Lesung der Tora und deren Erklärung zu hören. Dies in erster Linie am Sabbat. Hier wurden auch Lobsprüche gesagt und es gab eine Gebetskultur (JHB 202f). Jesus ist im Laufe seines Lebens immer wieder in diverse Synagogen Galiläas gegangen und dort aufgetreten.
- Eine wichtige Rolle spielen im jüdischen Glaubensleben die 10 Gebote, der Dekalog. Dieser ist über den „Hausgebrauch“ hinaus auch in der morgendlichen Tempelliturgie verortet (JHB 203).
Zusammenfassend lässt sich sagen: Das religiöse Leben des Judentums stellte keinen Sonderbereich dar, sondern prägte das alltägliche Leben jüdischer Menschen in vielerlei Hinsicht. Dieses Leben nach der Weisung Gottes (Tora) war auch kein bedrückendes System von Einschränkungen und Normen, sondern ein Leben nach dem Willen Gottes stellte einen „positiven Kern der Religion“ (JS 122) dar. Sie war „Gabe und Aufgabe“ zugleich (JHB 204). Jesus hat in den Auseinandersetzungen mit manchen Menschen seiner Zeit dieses „Gesetz“ nicht grundsätzlich in Frage gestellt, sondern mit ihnen um dessen richtiges Verständnis gerungen.
„Die entscheidenden Merkmale des Auftretens Jesu sind“ vor dem Hintergrund seines jüdischen Glaubens „zu verstehen: Mit der Rede von der anbrechenden Gottesherrschaft stellt er ein jüdisches Symbol ins Zentrum seines Wirkens, mit seiner Auslegung des Gesetzes greift er in eine kontroverse jüdische Diskussion ein, mit der Gründung des Zwölferkreises, der Hinwendung zu Außenseitern sowie dem programmatischen Auftreten in Jerusalem stellt er seine Wirksamkeit unter das Vorzeichen der Erneuerung Israels.“ (JS 123)
[Literatur u.a. Jens Schröter, Jesus von Nazaret S.120ff. | Schröter / Jacobi, Jesushandbuch S.202ff.]