Schon in der frühen urchristlichen Überlieferung finden sich zahlreiche Beispiele für Heilungswunder, die von Jesus von Nazaret ausgingen. Im Unterschied zu Naturwundern wie der Gang Jesu auf dem Wasser oder die Stillung eines Sturmes werden diese wie auch die Dämonenaustreibungen dem historischen Jesus zugeschrieben. Sie haben sicher einen großen Teil der Anziehungskraft Jesu ausgemacht. Schon früh ist in sogenannten Sammelberichten davon die Rede, wie die Menschen Jesus geradezu belagerten, wenn es Heilungen und Exorzismen in ihrer Nähe gab: Am Abend, als die Sonne untergegangen war, brachte man alle Kranken und Besessenen zu Jesus. Die ganze Stadt war vor der Haustür versammelt und er heilte viele, die an allen möglichen Krankheiten litten, und trieb viele Dämonen aus. (Mk 1,32f)
Eine solche Tätigkeit wird in einer Zeit, in der Ärzte für die Normalbevölkerung nicht selten unerschwinglich teuer waren, viele Menschen in Not und Verzweiflung zu Jesus gebracht haben. Die Heilungen fanden in unterschiedlichen Ortschaften wie Kafarnaum, Bethsaida oder auch in der für Juden heidnischen Dekapolis statt. Jesus heilte in Synagogen, in der Öffentlichkeit der Straße oder auch im privaten Haus.
Auch die Vielfältigkeit der Heilungen, die nicht immer klar von den sogenannten Dämonenaustreibungen zu trennen sind, ist erstaunlich: Es gibt Heilungen von Blinden (u.a. Mk 8,22-26), von Gelähmten (u.a. Mk 2,1-12parr), von Menschen, die aus religiöser Sicht als unrein gelten wie Menschen mit Aussatz (u.a. Mk 1,40-45par), von der Heilung einer „verdorrten“ Hand oder auch die Heilung einer Frau mit chronischer Blutung, die daher auch als unrein galt: Viele Menschen folgten ihm und drängten sich um ihn. Darunter war eine Frau, die schon zwölf Jahre an Blutfluss litt. Sie war von vielen Ärzten behandelt worden und hatte dabei sehr zu leiden; ihr ganzes Vermögen hatte sie ausgegeben, aber es hatte ihr nichts genutzt, sondern ihr Zustand war immer schlimmer geworden. Sie hatte von Jesus gehört. Nun drängte sie sich in der Menge von hinten heran und berührte sein Gewand. Denn sie sagte sich: Wenn ich auch nur sein Gewand berühre, werde ich geheilt. Und sofort versiegte die Quelle des Blutes und sie spürte in ihrem Leib, dass sie von ihrem Leiden geheilt war. Im selben Augenblick fühlte Jesus, dass eine Kraft von ihm ausgeströmt war, und er wandte sich in dem Gedränge um und fragte: Wer hat mein Gewand berührt? Seine Jünger sagten zu ihm: Du siehst doch, wie sich die Leute um dich drängen, und da fragst du: Wer hat mich berührt? Er blickte umher, um zu sehen, wer es getan hatte. Da kam die Frau, zitternd vor Furcht, weil sie wusste, was mit ihr geschehen war; sie fiel vor ihm nieder und sagte ihm die ganze Wahrheit. Er aber sagte zu ihr: Meine Tochter, dein Glaube hat dich gerettet. Geh in Frieden! Du sollst von deinem Leiden geheilt sein. (Mk 5,25-34parr.)
Wie bei dieser Frau ist die Verzweiflung und Ausweglosigkeit von Menschen in Not geradezu mit den Händen zu greifen. Sie litt schon seit vielen Jahren an ihrer Krankheit und hatte für ihre Therapieversuche schon ihr gesamtes Vermögen aufgebraucht. Mit ihrem Blutfluss galt sie als unrein und durfte daher den Tempel nicht mehr betreten. Jesus ist vor allen sonstigen Zuschreibungen zunächst einmal ein „Not-Linderer“: Er sieht die Not der Menschen und nimmt ihre soziale Ausgrenzung und Hilflosigkeit wahr: Der Kranke antwortete ihm: Herr, ich habe keinen Menschen, der mich, sobald das Wasser aufwallt, in den Teich trägt. Während ich mich hinschleppe, steigt schon ein anderer vor mir hinein. Da sagte Jesus zu ihm: Steh auf, nimm deine Liege und geh! 9 Sofort wurde der Mann gesund, nahm seine Liege und ging. (Joh 5,7-9) Immer wieder hat der historische Jesus sich den Menschen angenommen, die Bitten um Heilung an ihn herangetragen haben. Gleichzeitig berichten die biblischen Erzählungen vom Versagen der Jünger:innen Jesu, die nicht immer die Kraft Jesu hatten, um die Krankheiten der Menschen und die damit verbundene Verzweiflung zu bekämpfen.
Jesus hat bei diesen Heilungen verschiedene „Techniken“ angewandt, die auch andere heilende Persönlichkeiten zu seiner Zeit gebrauchten: Zum einen gibt es zahlreiche Berichte von Kranken, die Jesus berührt hat und ihnen die Hand auflegte: Als die Sonne unterging, brachten die Leute ihre Kranken, die alle möglichen Gebrechen hatten, zu Jesus. Er legte jedem von ihnen die Hände auf und heilte sie. (u.a. Lk 4,40) In diesen Heilungsakten wirkt eine Kraft, eine dýnamis, daher ist die richtige Übersetzung in der Regel auch nicht Heilungswunder, sondern es ist von Macht- oder Krafttaten die Rede. Es gibt daneben Berichte vom Einsatz der „Drecksapotheke“. Dazu gehören Heilungen mit Spucke, die Jesus z.B. einem Blinden auf die Augen reibt: Sie kamen nach Betsaida. Da brachte man einen Blinden zu Jesus und bat ihn, er möge ihn berühren. Er nahm den Blinden bei der Hand, führte ihn vor das Dorf hinaus, bestrich seine Augen mit Speichel, legte ihm die Hände auf und fragte ihn: Siehst du etwas? Der Mann blickte auf und sagte: Ich sehe Menschen; denn ich sehe etwas, das wie Bäume aussieht und umhergeht. Da legte er ihm nochmals die Hände auf die Augen; nun sah der Mann deutlich. Er war wiederhergestellt und konnte alles ganz genau sehen. (Mk 8,22-25)
Der Mann aus Nazaret sieht den arbeitsfreien Sabbattag als einen Hinweis auf das letztendliche Heil Gottes. Hier wird die ursprünglich von Gott gewollte gute Schöpfung wiederhergestellt. Durch den Segen der Heilung wird die Nähe des Gottesreichs körperlich erfahrbar: Als er wieder in die Synagoge ging, war dort ein Mann mit einer verdorrten Hand. Und sie gaben Acht, ob Jesus ihn am Sabbat heilen werde; sie suchten nämlich einen Grund zur Anklage gegen ihn. Da sagte er zu dem Mann mit der verdorrten Hand: Steh auf und stell dich in die Mitte! Und zu den anderen sagte er: Was ist am Sabbat erlaubt – Gutes zu tun oder Böses, ein Leben zu retten oder es zu vernichten? Sie aber schwiegen. Und er sah sie der Reihe nach an, voll Zorn und Trauer über ihr verstocktes Herz, und sagte zu dem Mann: Streck deine Hand aus! Er streckte sie aus und seine Hand wurde wiederhergestellt. (Mk 3,1-5)
Jesus fragt erstaunlicherweise nicht nach, woher die Krankheit kommt bzw. was deren Ursache ist. Wichtig ist allein, dass die Krankheit und die Sünde ihre Macht über den Menschen verlieren. Dem Kranken müssen auch gar nicht zuerst die Sünden vergeben werden und danach wird er geheilt. Die in der Antike durchaus übliche Verknüpfung von Krankheit und Vergehen des Menschen wird klar durchbrochen. Und dies alles tut er in der Autorität Gottes. Denn Sünden konnte allein Gott vergeben, Niemand sonst.
Einer der Titel Jesu war folgerichtig der des Arztes: Nicht die Gesunden bedürfen des Arztes, sondern die Kranken. Ich bin nicht gekommen, um Gerechte, sondern Sünder zur Umkehr zu rufen. (Lk 5,31) Diese Tätigkeit war allerdings nicht selten enger verbunden mit seiner besonderen Fähigkeit, die Macht der Dämonen zu beenden, die nach Ansicht der Menschen seiner Zeit überaus zerstörerisch war.
[Bernd Kollmann in: Jesushandbuch 298ff.]