Die Bibelexpertin Angelika Strotmann identifiziert auf der Basis der Evangelien folgende Menschengruppen, die Jesus vor allem im Blick hatte: Zunächst in einer Art Mikrokosmos um drei kleinere Orte nordwestlich des Sees Genesaret und später auch darüber hinaus.
Hier sind zunächst einmal Menschen mit sozioökonomischen Defiziten erkennbar. Sie können am sozialen Leben nicht teilnehmen, weil ihnen die Mittel dazu fehlen: es geht um bettelarme Menschen, Menschen, die hungern und weinen, aber auch um Kinder. Das gemeinsame Merkmal dieser Gruppe ist ihre fehlende Macht sowie ihre Perspektiv- und Chancenlosigkeit. Das Leitwort, das sich hier in griechischer Sprache finden lässt, ist ptochos, eine Bettelarme oder ein Bettelarmer. Gemeint ist eine Armut, die zu Hunger führt und Weinen macht: Selig, ihr Armen, denn euch gehört das Reich Gottes. Selig, die ihr jetzt hungert, denn ihr werdet gesättigt werden. Selig, die ihr jetzt weint, denn ihr werdet lachen (Lk 6,20f)). Es geht um Menschen, die unterhalb des Existenzminimums leben und oft nicht wissen, was sie am nächsten Tag essen: Dein Reich komme. Gib uns täglich das Brot, das wir brauchen! (Lk 11,2f) Sie haben auch in politischer Hinsicht keinen Zugang zu den Ressourcen und Führungsinstitutionen ihrer Gesellschaft und besitzen keine Mittel, sich öffentlich bemerkbar zu machen und auf die Ziele der Gesellschaft einzuwirken (Stegemann 2010).
Als Jesus zum Beispiel die Oasenstadt Jericho wieder verließ, erlebte er folgendes: Es saß am Weg ein blinder Bettler, Bartimäus, der Sohn des Timäus. Sobald er hörte, dass es Jesus von Nazaret war, rief er laut: Sohn Davids, Jesus, hab Erbarmen mit mir! Viele befahlen ihm zu schweigen. Er aber schrie noch viel lauter: Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir! Jesus blieb stehen und sagte: Ruft ihn her! Sie riefen den Blinden und sagten zu ihm: Hab nur Mut, steh auf, er ruft dich. Da warf er seinen Mantel weg, sprang auf und lief auf Jesus zu. Und Jesus fragte ihn: Was willst du, dass ich dir tue? Der Blinde antwortete: Rabbuni, ich möchte sehen können. Da sagte Jesus zu ihm: Geh! Dein Glaube hat dich gerettet. Im gleichen Augenblick konnte er sehen und er folgte Jesus auf seinem Weg nach. (Mk 10,46-52)
Die zweite Gruppe, um die sich Jesus bevorzugt kümmerte, sind Menschen mit realen physischen und psychischen Defiziten: Hier geht es um sowohl um Kranke wie den beschriebenen Bartimäus aus Jericho als auch um Behinderte und um Besessene, deren Befreiung von dämonischen Mächten Jesus als Zeichen des schon angebrochenen Gottesreiches deutet: Wenn ich aber die Dämonen durch den Finger Gottes austreibe, dann ist das Reich Gottes schon zu euch gekommen. (Lk 11,20 par). Eine enge Verbindung von Gottesreich-Verkündigung und Krankenheilungen zeigt eine andere Stelle im Lukasevangelium. Hier fordert Jesus seine Schüler:innen auf, die Kranken zu heilen und ihnen zu sagen: „nahe gekommen ist zu euch das Königreich Gottes“. Heilt die Kranken, die dort sind, und sagt ihnen: Das Reich Gottes ist euch nahe! (Lk 10,9) Damals wie heute zeigt sich dabei wohl der Teufelskreis der Armut: Menschen in Armut sind häufiger krank und umgekehrt führen chronische Krankheiten und Behinderungen häufig zu Armut und Ausgrenzung, wie das genannte Beispiel des Bartimäus ebenfalls erkennbar macht.
Und schließlich geht es um Menschen mit moralischen Defiziten: Da geht es um Zöllner, Prostituierte und Menschen, die in den Evangelien pauschal als Sünder:innen bezeichnet werden. Hier gilt die einfache Logik: Nicht die Gesunden bedürfen des Arztes, sondern die Kranken. (…) Denn ich bin nicht gekommen, um Gerechte zu rufen, sondern Sünder (Mt 9,12f). Jesus wendet sich diesen Gruppen vorurteilslos zu, isst und trinkt mit ihnen und nimmt sie damit zeichenhaft wieder in die Gemeinschaft der Anerkannten und Gewürdigten auf.
Die Linie seines Wirkens wird in dieser „Zielgruppenanalyse“ sehr deutlich. Es ging Jesus und dann den von ihm „ausgebildeten“ Schüler:innen in erster Linie darum, die lebensstiftende, lebensbewahrende und befreienden Linie Gottes zu vermitteln – sein erkennbar anbrechendes Gottesreich – zu vermitteln. Die Heilungskraft, die sie vermitteln, kommt von dem schöpfungsliebenden Gott Jáhwe her über sie, sie geschieht nicht aus ihrer eigenen Kraft. Dabei geht es Jesus von Nazaret immer um die Ganzheitlichkeit des Heils in seiner sozialen, psychischen und nicht zuletzt physischen Bedeutung. Jesus und seine Leute laden in diesem Wirken ein, mit ihnen diesen Heils-Raum des Lebens zu betreten.
[Literatur u.a.: Angelika Strotmann, Der historische Jesus S.115ff. | Wolfgang Stegemann, Jesus und sein Zeit S.325ff.]