Im Blick auf einen Religionserneuerer wie Jesus von Nazaret ist das natürlich DIE entscheidende Frage: Wie hat Jesus sich Gott vorgestellt? Was hat er über ihn gedacht? Welche Erfahrungen hat er mit ihm verbunden? Von diesen Vorstellungen ausgehend hat er dann ja schließlich zu den Menschen seiner Zeit über diesen Gott gesprochen, er hat Ihnen vermitteln wollen, wie auch sie über Gott denken und zu ihm beten können. Er hat sie über Gott und dessen Wirken unter ihnen sogar „unterrichtet“ wie ein Lehrer oder ein Rabbi. Gott ist schließlich die überragende Autorität für Jesus und der entscheidende Impulsgeber und Motor der Jesusbewegung.
Zunächst einmal kann man feststellen, dass die Vorstellungen, die Jesus von Gott hatte, nicht anders waren als die seines jüdischen Umfelds in seiner Zeit. Die Eltern und andere hatten ihn dieses „Bild“ von Gott vermittelt. Sechs Aspekte dazu sollen hier als typisch für dieses jüdische Verständnis herausgehoben werden:
Zum Einen: Für sie wie für Jesus gab es nur einen einzigen Gott und dieser ist von ganzem Herzen zu lieben: Jesus antwortete: Das erste ist: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit deinem ganzen Denken und mit deiner ganzen Kraft. (Mk 12,29f)
Zum Zweiten: Dieser Gott hat den Himmel und die Erde erschaffen und erhält sie weiterhin, indem er zum Beispiel Sonne und Regen schenkt: … er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. (Mt 5,45) Gott ist der Schöpfer des Universums.
Drittens: Aus diesem monotheistischen Gottesbild (Es gibt nur einen Gott!) ist eine universelle Weite und Bedeutung Gottes abzuleiten. Das Gottesreich, das laut Jesus anbricht und sich durchzusetzen beginnt, ist allumfassend, es gilt grundsätzlich für alle Menschen. Auf der anderen Seite glaubt Jesus an den Gott aus der Geschichte Israels. Mit dem von ihm auserwählten Volk Israel hat er einen Bund geschlossen und dessen Geschichte geprägt. Das erklärt, warum der Nazarener sich vorwiegend für jüdische Menschen seiner Zeit einsetzt. Als eine nichtisraelitische Frau ihn um Hilfe bittet, verweist er auf seinen vorrangigen Auftrag für die jüdischen Kinder Gottes, die Israeliten: Da sagte er zu ihr: Lasst zuerst die Kinder satt werden; denn es ist nicht recht, das Brot den Kindern wegzunehmen und den kleinen Hunden vorzuwerfen. (Mk 7,27)
Viertens: Für ihn kann Gott nicht in einem Bild eingefangen werden, er ist aber dennoch für die Menschen erkennbar, er offenbart sich und zeigt sich auch in den Heiligen Schriften Israels. Aus den prophetischen Schriften heraus kann Jesus verschiedene Gruppen in Israel wie die Pharisäer oder Sadduzäer auch scharf kritisieren.
Fünftens: Der Wille, der sich für ihn in Gottes Weisung, der Tora, zeigt, gilt, hat höchste Autorität und ist daher bindend: Wer den Willen Gottes tut, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter. (Mk 3,35par) Entscheidend ist, dass die Lebenspraxis der Menschen auf dieser Linie ist und man nicht nur redet oder gar anderen davon predigt.
Und schließlich: Mit den meisten jüdischen Strömungen außer den Sadduzäern teilt Jesus die Vorstellung von Auferstehung der Toten. Darin zeigt sich für ihn die Macht Gottes: Er ist kein Gott von Toten, sondern von Lebenden. (Mk 12,27) Weil Gott ein Gott der Lebenden ist, bleibt diese grundlegende Bindung auch nach dem Tod erhalten und erlischt nicht.
Vor allem zeigt Jesus ganz im Sinne seines jüdischen Glaubens: Es geht vor allem um eine gute Beziehung zwischen Gott und jedem einzelnen Menschen! Gott wendet sich dem Menschen in Barmherzigkeit und Liebe überaus positiv zu, vermittelt ihm aber auch sehr eindringlich, falsche und lebenszerstörende Wege zu verlassen. Jesus betont dabei auch, dass Gott sich den vor allem den benachteiligten, leidenden und belasteten Menschen zuwendet: Selig, ihr Armen, denn euch gehört das Reich Gottes. Selig, die ihr jetzt hungert, denn ihr werdet gesättigt werden. Selig, die ihr jetzt weint, denn ihr werdet lachen. (Lk 6,20f) Gerade die in jener Zeit als zweitrangig angesehenen Kinder kommen in das anbrechende Gottesreich hinein: Lasst die Kinder zu mir kommen; hindert sie nicht daran! Denn solchen wie ihnen gehört das Reich Gottes. Amen, ich sage euch: Wer das Reich Gottes nicht so annimmt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen. (Mk 10,14fpar) Jesus verstärkt hier eine bereits im jüdischen Glauben seiner Zeit begegnende Linie: Der einzelne Mensch darf als Einzelner das Vertrauen in Gottes liebende Zuwendung haben – es geht um die Zusage der Gnade Gottes.
Jesus hat in seinem Sprechen mit Gott – dem Gebet – diesen immer wieder auf aramäisch mit „abba“ als „mein Vater“ angesprochen. Schon im Judentum seiner Zeit wurde diese Anrede zunehmend gebraucht und Jesus hat folgerichtig sein großes Gebet, das er seinen Nachfolger:innen beibrachte, mit der Anrede „Unser Vater“ begonnen. Wenn Jesus davon ausgeht, dass Gott wie ein Vater ist, dann geht er dabei natürlich auch von den Vorstellungen seiner Zeit aus. Hier drückt die Vater-Kind-Bezeichnung eine bestimmte Art der Beziehung aus. Sie ist lebenslang gültig und sie ist einerseits sehr exklusiv – ein Kind hat nur einen Vater – und andererseits sozusagen unausgeglichen oder asymmetrisch, denn ein Vater kann schließlich gleichzeitig viele Kinder haben. So ist das Bildwort „Vater“ einerseits eine exklusive Aussage im Blick auf die einzelne Person und gleichzeitig immer auch inklusiv, weil sie bewusst offenlässt, wer alles zu Gott als Vater gehört.
Es geht in jedem Fall um ein Kindschaftsverhältnis. In diesem Verhältnis erhält der Mensch einen bestimmten Status, eine Würde, weil er als legitimes Kind eines Vaters zu sehen ist und dadurch anerkannt wird. Diejenigen, die dem Weg Jesu und damit dem Beispiel Gottes folgen, erhalten diesen Status: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder eures Vaters im Himmel werdet. (z.B. Mt 5,44f) Hier geht es um einen weiteren Aspekt der Vaterrolle: Der ideale Vater ist Vorbild, das ideale Kind kann sich an ihm orientieren.
Unbedingt zum Vaterbild mit dazu gehören aber die Fürsorge Gottes gegenüber den Menschen und damit verbunden die Gewissheit seiner Gebetserhörung und dessen Bereitschaft zu vergeben. All das findet sich daher im Vaterunser sowie in verschiedenen Gleichnisgeschichten und Bildworten.
Bittet und es wird euch gegeben; sucht und ihr werdet finden; klopft an und es wird euch geöffnet! Denn wer bittet, der empfängt; wer sucht, der findet; und wer anklopft, dem wird geöffnet. Oder ist einer unter euch, der seinem Sohn einen Stein gibt, wenn er um Brot bittet, oder eine Schlange, wenn er um einen Fisch bittet? Wenn nun ihr, die ihr böse seid, euren Kindern gute Gaben zu geben wisst, wie viel mehr wird euer Vater im Himmel denen Gutes geben, die ihn bitten. (Mt 7,7-11par)
Erstaunlicherweise ist von der väterlichen Liebe, die heute stark betont wird, oder der „Autoritätsperson Vater“ bei Jesus gar nicht ausdrücklich die Rede. Diese Autorität Gottes sowie dessen liebende Zuwendung sind aber als Qualitätsmerkmale Gottes vorausgesetzt. Dieses wird zum Beispiel im Gleichnis vom verlorenen Sohn oder dem barmherzigen Vater als ergreifende Geschichte sehr anschaulich vermittelt. Der Sohn erkennt seinen Irrweg und fällt eine Entscheidung: Ich will aufbrechen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe mich gegen den Himmel und gegen dich versündigt. Ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu sein; mach mich zu einem deiner Tagelöhner. Dann brach er auf und ging zu seinem Vater. Der Vater sah ihn schon von Weitem kommen und er hatte Mitleid mit ihm. Er lief dem Sohn entgegen, fiel ihm um den Hals und küsste ihn. Da sagte der Sohn zu ihm: Vater, ich habe mich gegen den Himmel und gegen dich versündigt; ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu sein. Der Vater aber sagte zu seinen Knechten: Holt schnell das beste Gewand und zieht es ihm an, steckt einen Ring an seine Hand und gebt ihm Sandalen an die Füße! Bringt das Mastkalb her und schlachtet es; wir wollen essen und fröhlich sein. Denn dieser, mein Sohn, war tot und lebt wieder; er war verloren und ist wiedergefunden worden. (Lk 15,18-24)
Ist Gott am Ende für Jesus am Ende vor allem eine männliche Größe, möglicherweise gar ein Patriarch? Werte, die Jesus dem „Vater“ zuordnet wie Fürsorge, Vergebungsbereitschaft oder Nachsichtigkeit sind bis in die heutige (westliche) Kultur hinein eher „weiblich“ oder „mütterlich“ besetzt. Jesus lebt in einer Gesellschaft, die eine bestimmte patriarchale Denkweise pflegt. Die Mutter ist hier dem Vater untergeordnet. Will Jesus somit das Bild von einem über allem stehenden und allmächtigen Gott vermitteln, kommt daher nur das Bild vom Vater in Frage. Die Sichtweise der Menschen seiner Zeit (und vieler Generationen nach ihm) ist an dieser Stelle eindeutig begrenzt und damit unzulänglich und indirekt abwertend gegenüber Frauen. Interessanterweise taucht dann der omnipotente Vater seiner Zeit in Jesu Vorstellung von der neuen Familie Gottes, die sich im Nachfolgekreis herausbilden soll, gar nicht auf. Als er in einem Haus am See Genesaret unter seinen Leuten und Interessent:innen ist, geschieht folgende: Da kamen seine Mutter und seine Brüder; sie blieben draußen stehen und ließen ihn herausrufen. Es saßen viele Leute um ihn herum und man sagte zu ihm: Siehe, deine Mutter und deine Brüder stehen draußen und suchen dich. Er erwiderte: Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder? Und er blickte auf die Menschen, die im Kreis um ihn herumsaßen, und sagte: Das hier sind meine Mutter und meine Brüder. Wer den Willen Gottes tut, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter. (Mk 3,31-35)
Indem Jesus hier nur von der Mutter und den Geschwistern spricht, stellt er die Autorität des Vaters als familiäre Autoritätsperson deutlich infrage und stellt damit gleichzeitig das patriarchale Herrschaftssystem seiner Zeit in Frage.
Die beiden wichtigsten Bildworte vom „Königreich Gottes“ und von „Gott als Vater“ dürfen somit nicht einseitig als männliche Machtbegriffe verstanden werden, sondern haben einzig allein mit anderen Begriffen zusammen die Aufgabe, das Vertrauen des Menschen in Gott zu stärken und zu einem guten Leben einzuladen, dass Gott für alle Menschen will.
[Christine Gerber, in Jesus Handbuch S.361ff.]