Frage 13:

Wie waren die Lebensbedingungen der Menschen in Galiläa und welchen Einfluss hatten sie auf Jesus?

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Es hat sich in der Vergangenheit gezeigt: Die Frage nach den Lebensbedingungen in Galiläa ist in keinem Fall unerheblich! Im 19. Jahrhundert begegnet uns die Vorstellung einer idyllischen Region, in der Gott seinen Sohn offenbart. Diese grenzt sich positiv ab sowohl vom Alten Testament als auch vom späteren Christentum. Anfang des 20. Jahrhunderts findet sich dann die Behauptung, Galiläa sei eine vorwiegend nicht-jüdische Region gewesen und Jesus hätte dadurch eine offene Haltung zu den Heiden entwickelt. Diese These wurde dann von der nationalsozialistischen Rassenlehre aufgenommen, um die jüdische Seite Jesu abzuschwächen. Auch als Ort sozialer Unruhen und des Widerstandskampfs wurde Galiläa schon dargestellt, um einen revolutionären Jesus gegen die sozial und politisch Mächtigen seiner Zeit zu positionieren und seine Parteinahme für die Armen und Unterdrückten zu erklären. In diesen Darlegungen zeigt sich die Gefahr, die eigenen Verhältnisse und Vorstellungen hinein zu projizieren und für sich zu nutzen.

Nach dem jüdischen Geschichtsschreiber Flavius Josephus ist ganz Galiläa äußerst fruchtbar, besonders die Landschaft um den See mit fetten Böden und ausgeglichenem Klima, eine „Landschaft von wunderbarer Natur und Schönheit“ (Bell 3,516). Sie ermöglichte eine intensive Landwirtschaft (Gerste, Weizen, Weintrauben und Oliven) und Viehhaltung. Feigen gab es nur in Untergaliläa, am See auch Nussbäume und Palmen. Die meisten Menschen wohnten in kleinen Orten wie Nazaret mit ca. 400 Einwohnern, einige in Großdörfern wie Kafarnaum mit ca. 1000 Einwohnern, viele wohnten in Städten von der Größenordnung wie Sepphoris, Magdala oder Tiberias mit ca. 8.000 bis 12.000 Einwohnern. Insgesamt wird für Galiläa eine Einwohnerzahl von ca. 150.000 bis 200.000 Menschen angenommen.

Aufklärung zu den wirklichen Lebensbedingungen haben in den vergangenen Jahrzehnten vor allem verschiedene Ausgrabungskampagnen gebracht. So hat sich gezeigt, dass die Annahme, es habe in der Zeit Jesu noch gar keine Synagogengebäude, sondern höchstens synagogale Versammlungen gegeben, als falsch erwiesen. In der Zwischenzeit sind z.B. in Magdala (städtisch) als auch in Tel Rekhesh (ländlich) Reste von Synagogen gefunden worden. Es erscheint insgesamt als wahrscheinlich, dass es in Galiläa und auch in Judäa an fast allen Orten Synagogengebäude gab. Diese stellten allerdings keineswegs nur religiöse Versammlungsorte dar, sondern dienten verschiedenen Zwecken des öffentlichen Lebens (JS 97).

Obwohl Galiläa vom jüdischen Kernland Judäa geografisch getrennt war, waren deren Einwohner*innen keineswegs „weniger jüdisch“ (JS 115). Im Gegenteil: Die Galiläer achteten besonders streng auf die Einhaltung der Reinheitsvorstellungen. Dies lässt sich zum einen an der Produktion von für die Reinheit besonders geeignetem Geschirr in dem Ort Kfar Hanania nachweisen. Zum zweiten gibt es die schöne Geschichte von der List des Johannes von Gischala, der besonders reines Öl mit hohem Gewinn verkauft (Josephus, Vita 74f). Nach der Rückeroberung Galiläas durch die jüdischen Makkabäer von den Seleukiden begann eine intensive jüdische Besiedelung, die sich auch durch archäologische Funde nachweisen lässt. Jesus wuchs somit nicht nur in einer jüdischen Familie auf, sondern lebt auch nachweislich in einem jüdisch geprägten Umfeld (JS 119).

Archäologisch sind für Galiläa verschiedene Typen von Wohnhäusern nachgewiesen. Es gab sowohl Villen als auch große Wohnhäuser mit Atrium. Solche Häuser, die etwa in Magdala ausgegraben wurden, werfen ein Schlaglicht auf die Lebenswelt wohlhabender Menschen, die sich in den Gleichnissen Jesu im reichen Kornbauern (Lk 12,16-21), dem Weinbergbesitzer (Mk 12,1-12) oder dem Hausherrn mit seinen Tagelöhnern (Mt 20,1-16) widerspiegeln. Die Familien der einfachen Bevölkerung lebten in ihren Dörfern entweder in Einzelhäusern mit zwei oder mehr Räumen oder in aus mehreren Häusern um einen Innenhof platzierten Wohnquartiere. Teil eines solchen Quartiers war z.B. das „Haus des Petrus“ in Kafarnaum.

Der archäologische Befund solcher Wohngebiete wie das in Kafarnaum vermitteln nachJens Schröter einen Eindruck vom durchschnittlichen Leben der Einwohner in den Orten, in denen Jesus gewirkt hat. Die von Jesus in die Nachfolge berufenen Fischer gehören somit weder zu den Wohlhabenden noch zur ärmsten Schicht der Besitzlosen und Tagelöhner, sondern zu den gewöhnlichen Dorfbewohnern. Vom Fischfang am See her hatten sie wahrscheinlich ein bescheidenes Auskommen.

Die Fischerei und die fischverarbeitende Industrie am See waren an sich ein lukratives Geschäft. Es gab allerdings hohe Fanglizenzen, die auch kontrolliert wurden. Einige Fischer konnten es sich leisten, noch Tagelöhner zu beschäftigen (vgl. Mk 1,20). Viele andere aber mussten familiäre oder nachbarschaftliche Hilfe in Anspruch nehmen.

Die Fischer mussten möglicherweise sehr sparen, wie der Fund (1986) eines Fischerboots aus dem 1. Jh. zeigt, das zwar gut verarbeitet ist, aber aus vielen teils auch minderwertigen Hölzern zusammengebaut ist und mit Holz aus älteren Booten repariert wurde.  (AS 80)

Daneben gab es nach Angelika Strotmann auch viele Kleinbauern, die ihre Familien kaum mit ihrem Ackerland ernähren konnten: Zwei Enkel des Jesusbruders Judas hatten gegen Ende des ersten Jh. gerade mal je 5 ha Land (Eus. v. Caes., Hist. Eccl. III, 20,1-9). Man kann davon ausgehen, dass 1 ha Land zwei Personen mit Getreide versorgen konnte. Für eine mindestens 9-köpfige Familie wie die Familie von Jesus würden 5 ha somit gerade eben ausreichen. Viele Bauern waren darauf angewiesen, Felder und Weinberge von Großgrundbesitzern dazu zu pachten (vgl. das Gleichnis von den bösen Winzern Mk 12,1-12). Krankheiten, Missernten oder der Tod des Haupternährers u.a. konnten eine Familie schnell in eine prekäre Situation bringen.

Dazu kamen hohe Abgaben:

  • Religiöse Abgaben ca. 15 % des Einkommens (Zehnter, Tempelsteuer)
  • Direkte Abgaben ca. 12,5 % (Kopf- und Bodenertragssteuer, die nach Rom gingen)
  • Indirekte Steuern (wie Markt- und Umsatzsteuer, Salzsteuer, Wege- und Brückenzölle) mind. 30 %

Wichtige Faktoren für die soziale Entwicklung stellen die von Jesu Landesfürsten Herodes Antipas begonnenen Bauprojekte dar. Im Rahmen dieser Projekte wurden die beiden wichtigsten Städte in Galiläa, Sepphoris und Tiberias, wiederaufgebaut bzw. neu gegründet. Das nur wenige Kilometer von Jesu Heimatstadt Nazaret entfernte Sepphoris wurde zu einer prächtigen Stadt mit Namen „Autokratoris“ nach römischem Muster angelegt. Für den Bauhandwerker Jesus könnten sich hier gute Arbeitsmöglichkeiten ergeben haben und er mit griechischer Sprache und Kultur in Kontakt gekommen sein. Es ergab sich einerseits ein wirtschaftlicher Aufschwung mit Arbeitsplätzen und sozialer Sicherheit, andererseits veränderten diese Bauaktivitäten das soziale Gefüge in der Region: In den Städten entstand eine starke wirtschaftliche Kraft und sie wurden dadurch zu Absatzmärkten der umliegenden Dörfer. Daneben entstanden aber Zwangsarbeits- und Schuldverhältnisse und das Gefälle zwischen Wohlhabenden und Abhängigen verschärfte sich.

Schröter 108f: „Das Gegenüber von Armen und Reichen in der Jesusüberlieferung erklärt sich vor diesem Hintergrund: Die Armen, Hungernden und Weinenden werden seliggepriesen, der Wüstenprediger Johannes wird den Reichen in weichen Kleidern, die in Palästen leben, gegenübergestellt, es ist die Rede von Schuldverhältnissen und von Tagelöhnern, die nach Arbeit suchen. Es kann nicht zweifelhaft sein, dass sich hier die Situation im Galiläa unter Antipas widerspiegelt.“

Galiläa war mit seinen umliegenden Regionen vernetzt. Ein gut ausgebautes Straßennetz erleichterte die Handelsbeziehungen, Münz- und Keramikfunde belegen ein weitgespanntes Netz von Verbindungen mit Städten inner- und außerhalb Galiläas. Es gab also auch mit den angrenzenden, nichtjüdischen Regionen einen regen Austausch. Jesus hat seine Jünger:innen in die Städte geschickt, um dort zu verkünden. Er selbst spricht selbstverständlich von Marktplätzen, Straßen, Bankgeschäften, Kaufleuten, Gerichten und Gefängnissen, die auf den Bezug der Jesusgruppe zu ihrem städtischen Umfeld hinweist (JS 109f). Jesus geht aber auch nach Südosten in die Dekapolis oder in die Küstenregion nach Tyrus und Sidon – gut möglich, weil auch hier jüdische Menschen lebten.

(JS Jesus 90 ff)