Die Zeit am Jordan bei Johannes wurde wahrscheinlich durch ein Schlüsselerlebnis beendet, mit dem sich das Denken Jesu grundlegend änderte. Es taucht die Denkmuster jüdischer Menschen seiner Umgebung und in ihm selbst in ein völlig neues Licht. Das Böse, verkörpert durch den Satan als Ankläger des Menschen bei Gott, ist gar nicht mehr auf Augenhöhe oder im permanenten Zerstörungsmodus unterwegs. Es wurde bereits von Gott besiegt und entmachtet. Das heißt im Lukasevangelium dann so: Ich sah den Satan wie einen Blitz aus dem Himmel fallen. (Lk 10,18) Jesus hat eine visionäre Erfahrung gemacht, die ihm eine völlig neue Einsicht vermittelte: Der Satan wurde bereits von Gott besiegt und aus dem Himmel gestoßen. Das Kommen Gottes passiert schon! Der Satan als der Ankläger der Menschen im Himmel und Herrscher über ein Heer von Dämonen (JTB S.313) ist schon erledigt und passé.
Das heißt für den Moment aber noch nicht, dass ab dieser Vision sofort paradiesische Zustände herrschen würden und es keine „Nachwirkungen“ dieser Zeit gäbe. Nein, es geht zunächst sozusagen noch darum aufzuräumen, weil noch gewisse den Menschen besetzende und quälende Machthaber unterwegs sind. Diese verbreiten noch Angst, Unheil und Krankheiten verbreiten und müssen daher zunächst des Feldes verwiesen werden. Jesus wird daher als Austreiber von dämonischen Mächten, als Exorzist, beschrieben und sein Wirken ist davon geprägt. Aber gerade dadurch ist diese Zeit eine Zeit der Erlösung, der Befreiung und der Heilung. Ängste überwinden, das Wiedergewinnen des eigenen Lebens und der eigenen seelischen und körperlichen Gesundheit, wie Gott es von Anfang an wünschte – all das bringt Jesus zum Wohl und Heil der Menschen voran: Das Gottesreich gewinnt an Raum, gerade auch durch und mit Jesus. Der große Heilsraum setzt sich mehr und mehr durch!
Bestätigt wurde ihm dieser Eindruck eines neuen Zeitabschnitts durch Erfahrungen im Zusammenhang mit einer sogenannten Versuchungsgeschichte in der Wüste zu Beginn des Markusevangeliums: Und sogleich trieb der Geist Jesus in die Wüste. Jesus wurde vom Satan in Versuchung geführt. Er lebte bei den wilden Tieren und die Engel dienten ihm. (Mk 1,12f) Hier wird genau in der Zeit der Versuchung Jesu durch den bereits entmachteten Satan ein Tierfrieden beschrieben, wie er schon bei den Propheten (z.B. 11,6-8) für die Endzeit erwartet wurde. Jesus erlebt sich hier als von einer göttlichen Sphäre geschützt, der paradiesische Urzustand ist wieder hergestellt, auch hier hat sich das Gottesreich bereits durchgesetzt.
Und schließlich macht Jesus die Erfahrung, dass er in der Lage ist, besondere heilsame Machttaten zu wirken, die die Menschen und wohl auch ihn in Erstaunen und Verwunderung versetzt haben. „Erst die Erfahrung seines Wundercharismas hat Jesus die letzte Gewissheit gegeben, dass der Satan überwunden, die Heilszeit schon angebrochen ist und er selbst durch sein exorzistisches und heilendes Wirken die sich unaufhaltsam durchsetzende Gottesherrschaft auf der Erde erfahrbar macht.“ schreibt die Bibelwissenschaftlerin Angelika Strotmann. (Der historische Jesus S.100)
Nach diesen fundamentalen Erfahrungen kann Jesus somit nur eine heil-volle Botschaft verkünden: Die erwartete Wende im Himmel war schon geschehen: Gott will den Menschen keinen Straf- oder Gerichtsraum, sondern einen „Heilsraum“ schaffen, „der das weiterhin drohende Gericht verzögerte und es ihnen ermöglichte umzukehren und in diesen Heilsraum einzutreten.“ (S.101)
Sein Wundercharisma und seine exorzistischen Fähigkeiten sieht er dabei als erlebbare Zeichen, als „Realsymbole“ für den ultimativen und unbedingten Heilswillen Gottes, die dem Menschen in aller Deutlichkeit und besser als alle Worte die heilsame und „wohltuende Wirkung ihrer Umkehr“ verdeutlichen können. (S.101)
Die Verkündigung seiner eigenen Botschaft vom anbrechenden Gottesreich konnte dann aber nicht in der Wüste sozusagen außerhalb der Zivilisation geschehen, sondern suchte die Menschen, insbesondere die, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens standen. Jesus trat auch äußerlich nicht auf wie ein Wüstenasket. Man wird ihn im Gegenteil später als „Fresser und Weinsäufer“ brandmarken. In einer Rede Jesu im Lukasevangelium heißt es: (…) Johannes der Täufer ist gekommen, er isst kein Brot und trinkt keinen Wein und ihr sagt: Er hat einen Dämon. Der Menschensohn ist gekommen, er isst und trinkt und ihr sagt: Siehe, ein Fresser und Säufer, ein Freund der Zöllner und Sünder! (Lk 7,33f)
An diesem Punkt hätte die Bruchstelle mit den Anschauungen des Täufers im Blick auf ein möglicherweise zu erwartendes Ende liegen. Jesus brach aber nicht komplett mit dessen Denken über Gott, sondern deutete dieses in einem völlig neuen Licht. Er entwickelte dessen Botschaft eigenständig weiter.
Dabei nahm er die Traditionen Israels und deren Visionen für die Endzeit auf und fügte sein Handeln und seine Verkündigung in diese Linie ein:
(Zum einen:) Gott sammelt sein Volk (z.B. Jes 11,12) und kümmert sich dabei besonders um die, die am Rand stehen oder ausgestoßen wurden (z.B. Ez 34). Das erklärt seine Hinwendung zu Sündern und Zöllnern.
(Zweitens:) Für sein Volk bereitet Gott ein Festmahl (z.B. Jes 25,6-8). In den Schilderungen der Propheten ist von erlesenen Weinen und köstlichen Speisen die Rede. Darum ist diese Zeit im Unterschied zu den Fastenpraktiken der Täufergruppe eine Zeit des Feierns (Mk 2,18f).
(Und schließlich:) Am Ende wird die Sündenvergebung durch Gott ohne Kult und Ritus erwartet (z.B. Jes 33,22-24). Dies ist gleichzeitig die Voraussetzung dafür, dass auch die Krankheiten aufhören. So verwundert es nicht, dass Jesus in großer Souveränität Menschen die Sünden vergibt. (Ebner 90 /AS 101)
Galiläa war für ihn Teil des verheißenen Landes, es ging folglich mit dem Weggang von Johannes in das fruchtbare Galiläa, zunächst an die Nordseite des See Genesaret in die Orte Kafarnaum, Betsaida und Chorazin. Dabei ging es ihm nicht einfach um die Rückkehr in seine alte Heimat und Familie – im Gegenteil: Er rief die Menschen in die neue „Familie Gottes“. Und er verkündet das anbrechende Gottesreich und wirkt als integraler Teil dieses Reiches heilend, sammelnd, vergebend und befreiend. Sein Lebensstil ist der einer Wanderexistenz, er will die Botschaft weitertragen und hat darin selbst keine Heimat mehr. Die Füchse haben Höhlen und die Vögel des Himmels Nester; der Menschensohn aber hat keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen kann. (Lk 9,58)
[Literatur u.a.: Angelika Strotmann, Der historische Jesus S.98f. | Jens Schröter, Jesus von Nazaret S.159f. | Martin Ebner, Jesus von Nazaret
52016 S.90 | Schröter / Jacobi S.313]